Sächsischer Corona-Prozess im Hochsicherheits-Saal

In unserer Region gibt es seit 14. November einen großen Coronaprozess und zwar gegen die 66-jährige Moritzburger Ärztin Dr. Bianca Witzschel. Ihr wird der Handel mit falschen Masken-Attesten vorgeworfen. Vom 28. Februar 2024 bis Mitte Juni saß sie in U-Haft in der JVA Chemnitz. Der erste Verhandlungstag, von dem wir hier berichteten, wirkte als gehe es um ein Verfahren gegen Terroristen. Im Juni wurde ein Urteil gesprochen und der Haftbefehl vorläufig außer Vollzug ausgesetzt, doch der Prozess gegen sie ist noch nicht zu Ende. Auch die Staatsanwaltschaft Dresden ging mittlerweile gegen das Urteil von 2 Jahren und 8 Monaten Haft in Revision. Das bedeutet: Den Anklägern des Justizministeriums war diese Strafe noch zu niedrig.

Dr. Bianca Witzschel - Foto: Facebook / privat

Dr. Bianca Witzschel - Foto: Facebook / privat

Der Vorsitzende Richter hatte am Vorabend (man könnte auch sagen: sehr kurzfristig und ungewöhnlich) verfügt, dass der Verhandlungsort aus dem üblichen Saal am Landgericht verlegt werden soll in das Prozessgebäude neben der JVA Dresden am Hammerweg. Selbst einer der zwei Anwälte der Angeklagten wusste nichts und kam zu spät. Erst nach und nach, als die Staatsanwaltschaft bereits die Anklageschrift verlas, trafen auch Besucher ein, meistens Anhänger der angeklagten Moritzburger Ärztin Dr. Bianca Witzschel. Sie wurde kurz vor Prozessbeginn in Handschellen in den Saal geführt, bewacht von zwei großgewachsenen Justizbeamten. Warum? Damit die 66-Jährige nicht plötzlich flieht? Das würde sie ohnehin nicht schaffen, denn der Gerichtssaal ist ein Hochsicherheitstrakt.

Hier fanden Prozesse gegen richtige Verbrecher bzw. Terrorverdächtige statt, u.a. gegen die Linksterroristin Lina E., den Remmo-Clan (dessen Mitglieder sächsische Juwelen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden stahlen), IS-Anhänger sowie die Freitaler Terrorzelle. War es die Absicht des Vorsitzenden Richters der 15. Strafkammer (Große Strafkammer) am Landgericht Dresden, die Angeklagte, die seit acht Monaten in der JVA Chemnitz in Untersuchungshaft sitzt und dort angeblich keine Post empfangen darf, mit gefährlichen Schwerverbrechern oder Terroristen gleichzusetzen, als er die Verhandlung in den Hochsicherheitstrakt verlegte? 

In der Umgebung des Gebäudes standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei. Davon zwei Fahrzeuge direkt vor dem Eingang. Schon einschüchternd. 

Wer den Saal neben der JVA Dresden am Hammerweg nicht kennt: Der Saal (ein Sicherheitstrakt) ist durch eine große, über 2 Meter hohe Glaswand in zwei Teile getrennt. Die Zuschauer auf der einen, Gericht, Staatsanwälte, Angeklagte und Verteidiger auf der anderen Seite. Der Ton der Verhandlung wird per Lautsprecher übertragen. Im Zuschauerteil „überwachen“ und „beobachten“ ständig zwei Justizbeamte Zuschauer und Pressevertreter. Der Autor empfand das gesamte Setting des Verfahrens einschüchternd. Die Justizbeamten waren streng, aber freundlich.

Die Verlesung der Anklage als Geduldsprobe

Die Anklageschrift war so lang, dass sich die zwei Staatsanwälte bei der Verlesung abwechseln mussten. Es werde immer die komplette Anklage mit allen Details verlesen, klärte mich ein Prozessbeobachter auf. Monoton verlasen die Staatsanwälte die Namen aller Personen, die von der Angeklagten gegen Geld entweder Maskenatteste oder Bescheinigungen für PCR-Teste oder Antigenteste erhalten haben sollen. Verkauf von ärztlichen Gefälligkeitsgutachten, so der Tatvorwurf. Zwischen 25 und 30 Euro soll die Ärztin pro Attest erhalten haben, insgesamt 30.000 Euro von rund 1.000 Personen. Außerdem soll die Angeklagte einen nicht zertifizierten Elektroschocker besessen haben, weshalb ihr auch illegaler Waffenbesitz vorgeworfen wird. Damit ist die 90-minütige Anklage grob zusammengefasst.

Im Rahmen von rechtspsychologischen Fragestellungen beschäftigten sich Kassen und Kollegenschaft schon vor zwanzig Jahren damit, ob Schuldvermutungen Prozesse von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen aktivieren können. Im dazugehörigen Experiment wurden „Tatverdächtige“ durch „Befrager“ verhört. Erhielten die Befrager experimentell die Information induziert, dass ein bestimmter Tatverdächtiger schuldig sei, wählten die Befrager mehrheitlich Fragen, die die vermeintliche Schuld bestätigten, und sie übten mehr Druck aus, um ein Geständnis zu erzwingen. Im zweiten Teil hörten unbeteiligte Personen die Tonaufnahmen der Verhöre. Sie nahmen Tatverdächtige, die angeblich schuldig waren, als defensiv wahr und hielten sie tendenziell auch für schuldig.

Könnte die Art dieses Verfahrens sich selbst erfüllende Prophezeiungen bei den Prozess-Verantwortlichen aktivieren? Beziehungsweise die Erwartung zu induzieren, dass die Angeklagte sehr wahrscheinlich schuldig ist? Welche Faktoren könnten dazu beitragen? Zum Beispiel diese:

  • Verhandlung im Hochsicherheitstrakt, strenge Einlasskontrollen
  • Anfertigung von Kopien der Ausweise aller Besucher und Pressevertreter
  • Mehrseitige sitzungspolizeiliche Anordnung mit strengen Regeln
  • Vorführung der Angeklagten in Handschellen
  • Antrag der Verteidigung beim Haftprüfungstermin auf Aussetzung des Haftbefehls war zu einem früheren Zeitpunkt abgelehnt worden
  • 40 angesetzte Verhandlungstage, letzter Verhandlungstermin am 27. Juni 2024 – richtig gelesen, nächstes Jahr

Verstörend war: Es gab keine Erklärung seitens der Justizbeamten am Eingang, was mit den erhobenen persönlichen Daten geschieht (Kopie der Ausweis-Dokumente), ob und wo sie gespeichert werden, wer Zugriff hat etc. (dass sich Behörden anlasslos Kopien von Dokumenten machen, kenne ich bisher nur aus Autokratien und Diktaturen). 

Apropos 40 Verhandlungstage. Was könnte da passieren? Will das Gericht alle 1.000 „Abnehmer“ der Atteste als Zeugen vernehmen? 25 pro Verhandlungstag? Sozusagen im Come-and-go-Verfahren? Fragen über Fragen. 

Wo sind die Geschädigten?

Den Ausführungen der Staatsanwaltschaft war zu entnehmen, dass der Angeklagten zwischen drei und vier Jahre Haft drohen sowie die Entziehung der Approbation. Losgelöst von juristischen Fragen und Moral bleibt im Rahmen eines Perspektivwechsels die Frage: Wo sind eigentlich die Geschädigten in diesem Verfahren? Richtig, es gibt keine. Die Ärztin hatte auf Nachfrage gegen Geld Atteste ausgestellt. Das mag moralisch vielleicht verwerflich sein, vielleicht auch kriminell. Aber alles geschah freiwillig, ohne Zwang. Aus Sicht der „Klienten“ war das offenbar ein Weg, um weiter am Leben während der Coronazeit teilnehmen zu können. Interessanterweise haben die zwei Staatsanwälte, die gut vorbereitet waren, keine Geschädigten benannt. Nichts. Oder der Autor hat es überhört. Interessanterweise wurde die Ärztin auch nicht der Steuerhinterziehung angeklagt. Eigenartig.

Holen wir uns ins Gedächtnis, was Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) auf einem Bürgerdialog in Zwickau über die Corona-Zeit sagte

„Es war nicht notwendig … diese Schulen zuzumachen, Kindergärten zuzumachen, die Bundesnotbremse war nicht notwendig. Es sind in dieser Zeit sehr, sehr viele Ungerechtigkeiten passiert. Sehr viele Entscheidungen, die man heute anders treffen würde … man kann versuchen, jetzt nach vorn zu leben. Nicht mehr diese Fehler zu machen und es sich gegenseitig nicht so aufzurechnen.“

Seine Koalitionspartnerin, die grüne Ministerin Katja Meier, und der vor ihr angeführte sächsische Justizapparat – auf jeden Fall Teile davon – samt weisungsgebundener Staatsanwaltschaft, machen das volle Gegenteil: Sie rechnen der angeklagten Ärztin alle Fehler, die sie zweifellos gemacht hat, haarklein und minutiös auf. Während sich die sächsische Regierungskoalition (CDU, SPD, Grüne) aus jeglicher Corona-Aufarbeitung davonstiehlt und die Bürger bittet, „es sich gegenseitig nicht so aufzurechnen“.

Heute wissen wir aus zahlreichen Studien: Masken waren wirkungslos und PCR-Tests unzuverlässig. Die Achse hat berichtet. Warum soll jetzt jemand bestraft werden für die Ausstellung eines Attestes für etwas, das nachweislich wirkungslos war? Aber die sächsische Justiz will’s wissen und strengt mit rückwärtsgewandtem Blick einen Prozess an für einen Kontext, den es nicht mehr gibt. Bezahlen werden die sächsischen Steuerzahler für das bevorstehende Mammutverfahren.

Dazu sagte ein erfahrener Prozessbeobachter dem Autor: Das alles ist unverhältnismäßig, hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.
Ja, der Eindruck drängt sich irgendwie auf.

Der Verfasser Stephan Kloss ist freier Journalist. Er lebt bei Leipzig und studiert Psychologie.

Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Erstabdruck erfolgte bei Tichys Einblick.

 

Update

Im Juni 2024 wurde Bianca Witzschel vom Landgericht Dresden zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Außerdem darf sie drei Jahre lang nicht als Ärztin tätig sein. Zudem wurden rund 47.000 Euro eingezogen – Geld, dass sie laut Gericht durch den Verkauf falscher Atteste eingenommen hatte.

Das Landgericht sah es als erwiesen an, dass Dr. Witzschel in den Jahren 2021 und 2022 bei Sammelterminen im gesamten Bundesgebiet ohne jegliche Untersuchung über 1.000 Gefälligkeitsatteste ausstellte. Diese reichten von Bescheinigungen zur Befreiung von der Maskenpflicht bis hin zu Attesten über angebliche Impfunfähigkeit. Dafür wurde sie wegen des gewerbsmäßigen Ausstellens falscher Gesundheitszeugnisse verurteilt. Zudem beinhaltete das Urteil einen Verstoß gegen das Waffengesetz, da bei einer Durchsuchung ein Elektroschocker ohne PTB-Prüfsiegel gefunden wurde.

Die Ermittlungsbehörden erhielten durch die Praxisdurchsuchung Zugriff auf die Patientenkartei und gehen nun gegen die Empfänger der Atteste vor. Dr. Brauer rät, keinen Anhörungsbogen zu unterzeichnen und sich juristischen Beistand zu holen.

Quelle: Dr. Brauer Rechtsanwälte