Julia Neigel und Uwe Fischer sensationell: alles live, nix aus der Dose
Am Sonnabend, dem 12. Oktober, 20 Uhr, war Julia Neigel zu Gast in Radeburg, nachdem sie bereits Ende Juni letzten Jahres im Landgut Mosch gemeinsam mit den Zöllnern und Anne Haigis für Aufsehen sorgte. Mit ihrer drei Oktaven umfassenden souligen Stimme begeisterte sie schon damals und die Künstlerin war vom hiesigen Publikum, dem Ambiente und dem Konzept der Veranstalter so begeistert, dass sie schon in diesem Jahr wieder hier ist – diesmal sozusagen in „Radeburg-City“. Gleich am Anfang fragt sie, ob denn noch jemand eine weitere Anreise hatte als sie selbst. Und in der Tat melden sich einige wirklich Weitgereiste. Den weitesten Weg hatte sicher der Gast aus Bremerhaven – 545 km laut Google, 15 Kilometer weiter als Mainz. Jemand aus Ingolstadt meint, über 600 km gebraucht zu haben. Nun ja.
Aus Radeburg sind vielleicht fünfzig – also etwa die Hälfte der über 100 Gäste. Das restliche Publikum wird schnell darüber aufgeklärt, dass das sächsische Wort „NU!“ nicht NEIN sondern JA bedeutet. Durch den in Wiesenburg/Mark stammenden „Ostmusiker“ Uwe Fischer, der jetzt in Berlin lebt, werden die sächsischen Vokabeln perfekt ausgesprochen. Noch perfekter ist sein Spiel auf der klassischen Gitarre. Für seine Riffs, Loops und anderen Klangeffekte, die keinerlei technische „Nachhilfe“ brauchen, bekommt er regelmäßigen Sonderapplaus. Dementsprechend wird Julia Neigel nicht müde, ihren einzigen musikalischen Begleiter an diesem Abend zu loben – „wie überhaupt so viele Musiker aus dem Osten so richtig, richtig gut sind.“ Sie erinnert an ihre gemeinsamen Auftritte mit Kollegen wie zum Beispiel Dieter „Maschine“ Birr, mit dem sie das wunderschöne Liebeslied „Regen“ gesungen und performt hat. Vielleicht zählt sie auch den in Kronstadt in Rumänien geborenen Peter Maffay zu den Künstlern aus dem Osten. Mit dem von ihr für ihn geschriebenen Songs „Freiheit, die ich meine“ steigt sie ins Programm ein.
Vielleicht ist ihre „Ost-Affinität“ auch ihrer Herkunft geschuldet. Julia Neigel wurde am 19. April 1966 als Russland-Deutsche in Sibirien in der Nähe des Altaigebirges als jüngstes von fünf Kindern geboren und durfte mit ihrer im 2. Weltkrieg verschleppten Familie mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes 1971 in die BRD umsiedeln. Bei einem Eignungstest zur Einschulung wurde bei ihr eine Hochbegabung festgestellt, woraufhin ihre Mutter sie durch die klassische Musikschule fördern ließ. Mit der Blockflöte gewann sie einige „Jugend-musiziert-Wettbewerbe“. Mit zwölf Jahren entdeckte sie für sich die Pop- und Rockmusik. Mit 14 Jahren sang sie zum ersten Mal in einer regional bekannten Bluesband und stieg schnell zu einer gefragten Sängerin innerhalb der überregionalen Musikszene auf. Ihre bevorzugte Musikrichtung wurde in dieser Zeit die Soulmusik. Sie spielte in ihren Teenagerjahren außerdem in der Handball-Bundesliga und moderierte bei regionalen Radiosendern. 1988 schaffte sie mit „Schatten an der Wand“ den nationalen Durchbruch. Wie sie dem Radeburger Publikum erzählt, kam ihr die Idee zu diesem Song während der Mathe-Abiturprüfung. „Die Prüfung habe ich trotzdem bestanden,“ ergänzt sie augenzwinkernd.
Im August 1989 war sie auf DDR-Tournee. Das erfolgreichste Werk ist das 1994 erschienene Album „Herzlich Willkommen“, das sich wochenlang hoch in den Top 10 hielt.
Für Maffay schrieb sie auch „Gib die Liebe nicht auf“. Nur mit besagter Gitarrenbegleitung von Uwe Fischer – also ohne Orchester und ohne Chor war dieser Titel natürlich ganz anders zu interpretieren – eher als Blues. Das macht sie brillant und erntet dafür stürmischen Beifall.
Sie schreibt und interpretiert keine seichten Schlager. Ihre Lieder haben Tiefgang und das meint sie auch so. „Während der Doppelmord durch einen gestörten Amokläufer die Nachrichten füllt und sogar im Wahlkampf missbraucht wird, wird abgelenkt vom Überfall der Türkei auf Syrien und von der grausamen Ermordung der kurdischen Zivilbevölkerung – auch mit deutschen Waffen.“ Die Heuchelei der Politiker, die den Waffenlieferungen zustimmen, verachtet sie. „Den Opfern des Terrors, des Hasses und der Gewalt, egal an welchem Ort in unserem Land, sowie den betroffenen Kurden und Zivilisten in Syrien, gilt mein Mitgefühl,“ schreibt sie in dem lesenswerten Blog „Ihr verantwortlichen Politiker…“ am Vortag der Radeburger Veranstaltung. Den Opfern von Krieg und Gewalt widmet sie das nach ihrer Aussage meistgecoverte Lied aller Zeiten – „Lili Marleen.“
Neigel animiert das Publikum immer wieder zum Mitklatschen und Mitsingen. „Kommt,“ ruft sie. „Wir sind hier vorn ganz allein, wir brauchen Euch!“ Als der ganze Saal „Mit dir, Lili Marleen, mit dir, Lili Marleen – wie einst Lili Marleen“ singt, ruft sie: „Jetzt hab ich Gänsehaut!“ Hildegard Knefs Refrain „Für mich soll's rote Rosen regnen, mir sollten sämtliche Wunder begegnen, die Welt sollte sich umgestalten und ihre Sorgen für sich behalten,“ singt das Publikum dann schon mal allein.
Ihr Kompliment für Ostmusiker stützt die vielfältig Begabte übrigens auf einen durchaus „globalen“ Erfahrungsschatz. Sie trat unter anderen mit Weltstars wie David Knopfler, Paco de Lucía, Tina Turner, Eros Ramazzotti, Rod Stewart, Udo Lindenberg und Elton John auf.
Aus der einstigen hochbegabten Jule ist längst Julia Neigel geworden. Eine Frau, die nichts mehr beweisen muss, musiziert, wie es ihr Freude macht. Sie experimentiert mit Musikstilen, gibt Klavier- und Orchesterkonzerte mit Gospelchor, um 2016 mit dem Unplugged-Live-Programm „Samt und Seide“ das Ihre gefunden zu haben. Instrumental auf eine Gitarre reduziert gibt sie in Radeburg ein beeindruckendes vorläufiges Abschlusskonzert und beschert dem Publikum ein unvergessliches Musikerlebnis. Bereits im November und im Dezember geht sie als Sängerin der Gruppe Silly auf die Tournee „40 Jahre Silly“ – unter anderem am 23.11. in Annaberg. Das Abschlusskonzert ist am 8.12. in Dresden.