Schulen seit 22. März geschlossen - Elternproteste, Kritik von Lehrern, Erziehern und Politikern

Einem Aufruf von Eltern aus dem Erzgebirge, Kinderschuhe zum Zeichen des Protests vor den Rathäusern abzustellen, folgten betroffene Eltern in zahlreichen sächsischen Kommunen, so auch in Meißen, Großenhain, aber auch in Radeburg, Ebersbach und Moritzburg. Sie stellten an Rathäusern, KiTas und Schulen Kinderschuhe ab und machten ihren Unmut mit Plakaten, Zeichnungen, Kerzen und anderen Demonstrationsmitteln deutlich. Die kleinen Kinderschuhe symbolisieren besonders die Verletzlichkeit der jüngsten Opfer einer einseitigen, jede Verhältnismäßigkeit vermissenlassenden Coronapolitik. Zwei Mütter aus Radeburg machten sich mit den an der hiesigen Postmeilensäule abgelegten Gegenständen auf den Weg nach Dresden in die Archivstraße und trafen den Ministerpräsidenten.

MP Kretschmer mit Katrin Weiß und Susi Klich aus Radeburg (v.l.)

Ministerpräsident Michael Kretschmer mit Katrin Weiß und Susi Klich aus Radeburg (v.l.) an der Sächsischen Staatskanzlei (Foto: Medienservice Sachsen)

Im Landkreis Meißen sind seit Montag, dem 22. März die Kindertageseinrichtungen sowie die Schulen wieder geschlossen. Ausgenommen von der Regelung sind die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen und Abschlussjahrgänge. Im Landkreis Meißen ist wieder eine Notbetreuung eingerichtet. Es gelten die vorherigen Voraussetzungen für die Notbetreuung, zu finden unter www.coronavirus.sachsen.de/eltern-lehrkraefte-erzieher-schueler-4144.html

Begründet wird die Schließung mit der fragwürdigen Inzidenz 100. »Die Corona-Schutz-Verordnung gibt uns hier leider keinen Spielraum, um die Schulen die eine Woche vor den Osterferien weiter offen zu lassen«, so Kultusminister Piwarz.»Ich bedauere die Entscheidung und verstehe die Verzweiflung der Eltern und Kinder. Wir müssen hier in Zukunft andere Lösungen finden. Der Inzidenzwert (kann) nicht mehr alleinig ausschlaggebend für die Bewertung der Situation sein«, machte der Kultusminister deutlich. Ähnlich hatte sich bereits der Stellvertretende Ministerpräsident Martin Dulig geäußert - und nicht zuletzt die Eltern von aus den KiTas und Schulen ausgeschlossenen Kindern und Schülern sehen das genauso.

Kinder sind systemrelevant!

Kommunalpolitiker schließen sich den Protesten der Eltern an.

„Alle Kinder sind systemrelevant!“  hieß es auf einem „Herz“ an der Postmeilensäule gegenüber vom Rathaus Radeburg, das am Montag schließlich den Weg in die Hände von Ministerpräsident Kretschmer fand (siehe Foto oben). Der ursprüngliche Ablageort galt aus Sicht der Aufrufenden „stellvertretend für alle Kinder der Schulen und Kindertagesstätten der Stadt und der Ortsteile von Radeburg, getreu dem Motto "Wir möchten spielen/ lernen/ Freunde treffen" soll somit aufmerksam gemacht werden, wie viele Kinderseelen wiederholt von der Politik vergessen werden aufgrund falscher Schlüsse.“
„Wir sehen diese Aktion weder als Anticoronademo noch als Wutbürgerbühne,“ schrieben die Organisatoren in ihrem Aufruf. ES GEHT NUR UM DIE KINDER!“
In der Gemeinde Ebersbach wurden Schuhe und andere Zeichen des Protestes an der Gemeindeverwaltung in Ebersbach, an der Grundschule in Kalkreuth und bei den „Hopfenbachflöhen“, der KiTa Lauterbach, abgestellt. 
In Moritzburg wurden Schuhe und andere Kinderutensilien vor dem Rathaus abgelegt und Protestplakate angebracht. Bürgermeister Jörg Hänisch kommentierte bereits am Sonntagabend: „Ich war gerade am Rathaus und kann mich dem Protest gegen die erneute Schul- und Kitaschließung nur anschließen. Bereits am Freitagnachmittag haben wir Bürgermeister des Landkreises in einer Videokonferenz mit Staatsministerin Köpping gegen die nicht nachvollziehbare Schließung protestiert. Ein Brief der Bürgermeister des Landkreises Meißen an den Ministerpräsidenten ist ebenfalls raus. Wir hoffen, dass die Proteste der Kommunalpolitik ankommen und auch ernst genommen werden.“
Den von Jörg Hänisch erwähnten Brief der Bürgermeister und des Landrates Ralf Hänsel veröffentlichte Radeburgs Bürgermeisterin Michaela Ritter auf ihrer Facebook-Seite. Die Bürgermeister sind sicher die falschen Adressaten für den Protest, denn in den Rathäusern werden keine Coronamaßnahmen beschlossen noch solche veranlasst. Dennoch sehen die Bürger hier ihre ersten und unmittelbaren Ansprechpartner. Der Protestbrief zeigt auch, dass die Bürgermeister nahe an der Basis sind und die Situation sowohl der Eltern als auch anderer Opfer der einseitig an der Kennzahl „Inzidenz“ ausgerichteten Politik am besten verstehen und nachvollziehen können. 
Der Schulleiter der Radeburger Heinrich-Zille-Oberschule, stellvertretende Bürgermeister und Vorsitzende der Sächsischen Schulleiterkonferenz, Michael Ufert, kann Eltern und Erzieher verstehen: "Meine Kollegen sind enttäuscht, wir rudern wieder zurück zum System von vergangener Woche. Das Durcheinander, was dadurch erzeugt wird, ist schwer zu kompensieren. Dass das gesamte öffentliche und kulturelle Leben von einer einzigen, politisch definierten und schwer nachzuvollziehenden Zahl abhängt, kann auf Dauer keine Lösung sein. Wir brauchen dringend differenzierte Kriterien und flexible Maßnahmen um das Virus dort zu bekämpfen, wo es auftritt, um so viel Alltagsleben wie nur geht zu ermöglichen."
Zu Mittag wurden die Objekte an der Postmeilensäule abgeräumt und am Nachmittag zur Sächsischen Staatskanzlei in Dresden gebracht und dort abgelegt. Die Initiatoren erwarteten Kultusminister Piwarz zum Gespräch, aber es kam Ministerpräsident Michael Kretschmer um die Ecke. 
Zunächst erkundigte er sich zur Herkunft der „Abordnung“ und ordnete dann schnell Radeburg als die „Karnevalshochburg mit der taffen Bürgermeisterin“ ein.
Sein Statement in den sozialen Medien nach dem Besuch: „Ich weiß, es ist furchtbar. Kinder brauchen Kinder. Und Bildung ist ein so wichtiger Punkt für die Entwicklung. Heute besuchten mich zwei Mütter aus Radeburg und machten mit ihrer Aktion vor der Staatskanzlei deutlich, welche großen Sorgen sie sich um ihre Kinder machen. Ich kann das gut nachvollziehen. Kinder leiden besonders unter dem Corona-Alltag. Wir wollen Schule und Kita offenhalten. Dafür brauchen wir ein sicheres Fundament. Das fehlt gerade. Wir haben eine so rasante Steigerung der Infektionen, dass ich die Krankenhäuser in wenigen Wochen an der Leistungsgrenze sehe. Wir klären mit der nächsten Corona-Schutzverordnung den Weg für die kommenden Wochen: regelmäßig Testen. So werden Infektionen erkannt und Ansteckungen verhindert. Wenn alle Bürgerinnen und Bürger mitmachen, können wir die Situation kontrollieren.“
Die Bürgerin baudi24 macht in diesem Sinne mit und empfiehlt in ihrem Kommentar dem Ministerpräsidenten, sich doch besser zu informieren, denn wenn die Krankenhäuser der Maßstab sind, brauchten die Schulen nicht zu schließen. „Nachweislich kommen Kinder kaum ins Krankenhaus wegen COVID und sind, wie Ihr Kollege Piwarz erst am Freitag feststellte, keine Treiber der Pandemie,“ so baudi24.
Im Landkreis Meißen sind trotz Inzidenz über 100 – unabhängig vom Grund ihres Krankenhausaufenthaltes - nur 68 positiv getestete Personen in den Krankenhäusern im Landkreis, darunter fünf auf der ITS. Es gibt 1600 Krankenhausbetten im Landkreis und 63 Intensivbetten. Die vom Ministerpräsidenten behauptete "Steigerung der Infektionen" ist, korrekt ausgedrückt, zunächst nur eine Steigerung der positiven Fallzahlen, die auch infolge der deutlich erhöhten Testfrequenz zustande kommt, was im Übrigen auch immer mehr seiner Politikerkollegen erkannt haben.

Bürgermeisterin Michaela Ritter kommentierte auf Facebook die Aktion mit den Worten: "Unsere Mütter haben sich heute auf den Weg in die Staatskanzlei gemacht und ihre Probleme und Vorschläge direkt vorgetragen. Darüber dürfen sie zurecht stolz sein. Jetzt hoffen wir gemeinsam auf Veränderungen im Interesse unserer Kinder."

 

Bildergalerie - "Schuhaktion"

in Ebersbach, Kalkreuth. Lauterbach, Moritzburg, Radeburg...

 

 

Stellungnahmen zur Politik der erneuten Schulschließung

Landrat Ralf Hänsel

(Pressemitteilung):

Entsprechend der Vorgaben der Verordnung müssen ab dem 22. März die Kindertageseinrichtungen sowie die Schulen schließen. Ein Handlungsspielraum für den Landkreis Meißen besteht diesbezüglich nicht. Ausgenommen von der Regelung sind die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen und Abschlussjahrgänge. Sie können weiterhin ihre Schulen besuchen. Zudem wird jeweils wieder eine Notbetreuung eingerichtet.

Landrat Ralf Hänsel hatte sich eine andere Lösung für die Schulen sowie Kindertagesstätten gewünscht und sich daher im Vorfeld sowohl im Gespräch mit den zuständigen Ministerien als auch auf schriftlichem Wege für ein differenziertes Offenhalten der Einrichtungen stark gemacht. „Vor dem Hintergrund, dass der Inzidenzwert weiter ansteigt, entspricht die Folge der derzeitigen Rechtslage. Allerdings muss das alleinige Fixieren auf Inzidenzwerte dringend überdacht werden.“, wiederholte er eine seit Langem von ihm gegenüber der Staatsregierung vorgetragene Forderung.

Bürgermeisterin Michaela Ritter

(Facebook):

Wie zahlreichen meiner Kollegen fehlt mir jegliches Verständnis dafür, dass die Entscheidung für die Schließung von Kindereinrichtungen und Schulen im Landkreis Meißen am Freitag Nachmittag durch den Freistaat verkündet wird und ab Montag früh gelten soll.
Wieder sind eine ordentliche Vorbereitung, ausführliche Information des Personals und der Eltern und eine Abstimmung der betroffenen Eltern mit ihren Arbeitgebern nicht möglich.
Und leider erhalten die Städte und Gemeinden solche wichtigen Informationen, für deren Umsetzung sie dann verantwortlich sind, über eine Pressemitteilung. Krisenmanagement geht anders! Und Kommunikation unter Partnern auf Augenhöhe auch.

Wir Bürgermeister aus dem Landkreis (haben) heute gemeinsam in einer 1,5 stündigen Videokonferenz mit Ministerin Köpping versucht, (EInfluss zu nehmen). Inklusive Vorschlägen für einen anderen Umgang mit den Werten. Leider bisher ohne Erfolg. Parallel dazu haben wir einen gemeinsamen Brief an den MP verfasst, auch heute Nachmittag. Weiteres wird folgen. Die Kommunen können und werden hier nicht mehr still sein.

Aus den Augen einer Radeburger Erzieherin*

Erzieherin findet deutliche Worte: "Kinderrechte werden mit Füßen getreten."

Ich, Erzieherin mit Herz und Seele, begrüße die Kinder endlich nach der langen Notbetreuung nach unzähligen Wochen wieder in unserer Einrichtung. Einige Kinder fehlen immer noch. Zu groß ist die Angst einiger Eltern vor einer Ansteckung und dem Hin und Her, was auf ihre Kinder nun wieder zukommen wird. Ich weiß nicht, wann ich sie endlich wiedersehen kann…

Die anderen Kinder drücken und herzen mich. Zu lange hat das Wiedersehen gedauert. Wir fangen nicht mit Angeboten an, nicht nach dieser Zeit. Die Kinder wollen ankommen, einfach mit ihren Freunden spielen. Freunde, die sie so lange nicht hatten. Ich genieße die strahlenden Augen der Kinder. So viel haben sie zu erzählen. Wie traurig sie in der Zeit waren, als der Kindergarten zugemacht hat. Wie sehr sie ihre Freunde und Spielkameraden vermisst haben. Wie lange sie ihre Großeltern nicht mehr besuchen konnten. Und dass Mama und Papa gestresst von der vielen Arbeit zu Hause sind. Diese Situation geht nahe. Der Moment des Glücks hält nur kurz an. Er wird gebremst von den Gedanken, wie lange die Kinder diese Unbeschwertheit diesmal leben können. Wann folgt die nächste Schließung? Wann die nächste Quarantäne?

Diese Frage wurde nach wenigen Tagen beantwortet. Ein Kind wurde positiv getestet. Nach Tagen voller Liebe, Augenstrahlen und Kinderlachen wurden die Kinder also wieder heim geschickt. Inklusive wir Erzieher. Geschickt in Isolation. Ohne Kinder, ohne Kita-Alltag, ohne Vorwarnung. Verzweiflung der Eltern, Angst ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen zu können und der Vorstellung, ihren Kinder wieder diesen Zustand zumuten zu müssen. Weitere positive Tests, Verlängerung der Absonderung in den eigenen vier Wänden…

Das nächste Wiedersehen. Wieder eine Atmosphäre der Freude, des Glücks und des Gefühls wieder in Freiheit zu sein und das Leben leben zu können. Doch etwas in anders. Die Kinder fragen, wann der Kindergarten wieder zu macht. Ob sie uns wieder vermissen müssen. Ob sie wieder von ihren Freunden getrennt werden. Die Nähe der Kinder, die sie suchen, ist größer. Sie kleben förmlich an uns Erziehern und ihren Spielkameraden. Sie sind unsicher. „In welchem Gartenbereich dürfen wir diesmal spielen?“ „Dürfen wir wieder singen und uns drücken?“ „Müssen wir bald wieder Zuhause bleiben?“ Auch diese Frage wurde nach wenigen wundervollen Tagen in Struktur beantwortet.

Die Inzidenz des Landkreises lässt eine Öffnung der Kitas nicht mehr zu. Ab Montag wird geschlossen. Wieder nur Notbetreuung. Ich schaue in die Augen der Kinder, die ich Montag nicht mehr wiedersehen darf. Sie ahnen nichts von all dem… mir schießen erneut die Tränen in die Augen… Ihre Eltern gehen Berufen nach, die nicht wichtig genug in den Augen der Regierung sind. Oder ihre Eltern befinden sich in Elternzeit, sie können ja ihre Kinder selber betreuen. Ja. Betreuen.

Aber können sie

  • soziale Kontakte zu Gleichaltrigen ersetzen? Nein!
  • Können sie Werte und Normen, die nur in der Gruppe vermittelt werden, ersetzen? Nein!
  • Können sie mit Kindern so spielen, wie Kinder mit Kindern es tun? Nein!

In mir als Erzieherin wachsen die Fragen: „Was ist plötzlich mit den Kinderrechten?“ „Wo ist die Gleichberechtigung geblieben, dass jedes Kind ein Recht auf die Kita hat?“ „Wohin sind die Rechte auf Bildung, Spiel und Freunde?„ Was hier mit den Kinderseelen passiert, ist ein Verbrechen und nicht mehr tragbar. Es folgen zunehmend Unsicherheiten, Ängste und Wesensveränderungen. Die Kinder werden vom Handeln des Systems kaputt gespielt. Und das sind keine Vermutungen, ich sitze in der ersten Reihe und tröste genau diese Kinderseelen!

Die Coronasituation ist keine leichte. Es geht um den Schutz der Bevölkerung, dies ist mir bewusst. Doch die Verhältnismäßigkeit der Bestimmungen und Verordnungen ist in meinen Augen nicht gegeben. Der Ansatz ist schlicht weg verkehrt. Natürlich müssen Menschen mit einem positiven Testergebnis herausgenommen werden, um den Schutz aller zu gewährleisten. Doch eine gesamte Gruppenquarantäne oder ständige Schließung der Kita in den Notbetrieb nach wenigen Tagen erachte ich als unzumutbar.

In der UN-Kinderrechtskonvention haben wir Kindern ein Zeichen für ihre Rechte gesetzt. Wir haben uns verpflichtet, diese zu wahren und ernst zu nehmen. Wir Erwachsenen sind ihr Sprachrohr, ihre Beschützer. Wir tragen Verantwortung dafür, dass ihre Rechte umgesetzt werden. Wir tragen die volle Verantwortung für ihren Schutz. Nicht nur für ihren körperlichen, sondern vor allem auch für ihre psychische Unversehrtheit. Doch der Schutz der Kinder wird zur Zeit mit den Füßen getreten!

Nicht nur die Inzidenz der Coronafallzahlen steigt. Stetig steigen auch die Zahlen beim Jugendamt für Gewalt innerhalb der Familie, der Anrufe beim Kindernottelefon sowie die Zahlen für Rezepte einer benötigten Psychotherapie wegen Angst, Panik und Suizidgefahr. Wie lange werden diese Zahlen ignoriert? Wie lange werden die Schreie der Kinder und Eltern ignoriert? Ab welchem Inzidenzwert kommt es hier zum Handlungsbedarf??? Ich bin schockiert, dass seit über 1 Jahr (!) kein Wert auf all dies gelegt wird. Ich fordere deshalb im Namen aller Kinder, die sofortige Öffnung der Kindertageseinrichtungen, um die Ausübung der Kinderrechte gewährleisten zu können!

Mit freundlichen Grüßen,
eine betroffene und erschütterte Erzieherin

*Name ist Redaktion bekannt.