Wir schreiben das Jahr 1971. Seit einem Jahr ist die Gaststätte zum Hirsch geschlossen. Nach dem Tod von Paul und Elsa Thomschke 1964 erbte Pauls Sohn Werner das Objekt, dieser war aber noch vor dem Mauerbau in den „Westen“ geflüchtet. Es ist nicht überliefert, auf wessen Wunsch der „Hirsch“ zwischen der staatlichen Handelsorganisation (HO) und der Stadt Radeburg aufgeteilt wurde. Es kann sein, dass die HO sich nicht den Saal ans Bein binden wollte, es kann aber auch sein, dass die Stadt froh war, Zugriff auf einen Versammlungsort zu haben. Jedenfalls lief es so, dass die HO nur die Gaststätte pachtete und die Eheleute von Waschinski als Kommissionäre einsetzte. So blieb das, bis sie 1970 in Rente gingen. Danach sollten neue Wirtsleute übernehmen. Die Stadt baute für diese im Obergeschoss sogar eine Wohnung aus, doch dann sagten sie kurzfristig ab und so blieb die Gaststätte geschlossen.
Am 1. Januar 1971 hatte Karl-Otto Schober die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters von Vorgänger Hermann Schild übernommen und bekam gleich als eine der ersten Hausaufgaben mit auf den Weg, dieses kommunale Versorgungsproblem zu lösen. Es war auch ein karnevalistisches Problem, denn der Elferrat hatte wenig Lust, sich bei den Prunksitzungen und Saalveranstaltungen auch noch um die Versorgung zu kümmern. Man kann es sich kaum vorstellen, aber es war damals eben schon schwierig, außerhalb planwirtschaftlich zugeteilter Mengen für Veranstaltungen Getränke heranzubekommen, also mussten wieder Wirtsleute her.
Die Radeburger Narren konnten sich noch gut erinnern, dass das Ex-Prinzenpaar Manfred I und Edith II bei „Paul und Else“ als Bedienung bzw. in der Küche arbeiteten. Manfred „Mahlzeit“ Heerwagen hatte beim ehemaligen Mühlenbesitzer Paul Thomschke Müller gelernt. Deshalb war „Mahlzeit“ zeitlebens sein Gruß und dann auch sein Spitzname. Als Paul 1953 von Müller auf Gastwirt „umsattelte“, nahm er Manfred mit. In der Saison 1963/64 waren Manfred und Edith Prinzenpaar und Manfred seit 1964 Elferrat. Mit dieser Vorgeschichte waren Manfred und Edith, nachdem nun der Hirsch leer stand, „erste Ansprechpartner“ der Elferräte für eine Neubesetzung der Hirsch-Wirtschaft.
Auch Manfreds ehemaliger Busfahrer-Kollege Rolf Kirbach bedrängte ihn, „es doch zu machen“. „Aber nur, wenn Du bei mir als Kellner anfängst,“ antwortete Manfred. Rolf Kirbach erklärte sich bereit. Auch Edith konnte sich das vorstellen. Die gelernte Verkäuferin war gerade nicht berufstätig. Sie war dabei, fünf Kinder großzuziehen, darunter zwei Zwillingspärchen. Das jüngste, Annette und Steffen, war gerade vier Jahre alt, das ältere, Bernd und Klaus, war im besten Teenager-Alter und die Älteste – Ute – war 18 und hatte gerade in der „PIKO“ (heute KVR) als Teilefertigerin ausgelernt. Den Eltern gelang es, Ute „abzuwerben“ und so stand das Team. Eigentlich.
Nun war bloß noch die Frage, ob man ein „Kollektiv“ aus Ungelernten mit der „verantwortungsvollen Aufgabe der gastronomischen Versorgung unserer Bevölkerung betrauen konnte,“ wie so etwas damals gewichtig formuliert wurde. Deshalb ging Edith Heerwagen zur Sprechzeit zum jungen Bürgermeister und fragte nach. „Frau Heerwagen, haben Sie sich das reiflich überlegt?“ sagte Karl-Otto Schober. „Ich würde mir das nicht zutrauen. Das sind schwierige Verhältnisse. Die Gaststätte bei der HO und der Saal bei der Stadt.“ Darauf Edith Heerwagen: „Na ich wollte eigentlich nur mal fragen, was man für Voraussetzungen mitbringen muss…“ Sie hatte ihm natürlich nicht gesagt, dass sie praktisch der Elferrat geschickt hatte. In dem war damals die „ganze Haute Volee“ von Radeburg: Friseurmeister Kurt Georg, Installateurmeister Siegfried Herrmann, Malermeister Walter Juraske, Lebensmittelhändler Walter Arlt, Bäckermeister Sigurd Schöne und Buchdruckermeister Gerhard Ulbrich.
Der neue Bürgermeister war nach so kurzer Amtszeit noch nicht gut einzuschätzen und Anfang der 70er gab es eine Verstaatlichungswelle. Private Handwerker und Gewerbetreibende, die man verächtlich als „Neureiche“ bezeichnete, waren da nicht besonders gut gelitten bei den Behörden. Also verheimlichte Edith diesen Fakt. Ein wichtiger Grund, vor so einer Aufgabe zu warnen, war auch, dass man als Kommissionär an die HO einen Vorschuss von 5000 Mark zahlen musste. Das war damals ein „Batzen Geld“. „Das hätten wir auch nicht gehabt,“ erzählt Edith Heerwagen weiter und als mal das Gespräch mit Walter Arlt darauf kam, dass man es „nie im Leben“ machen könne, schon wegen der Kommission, habe dieser spontan geantwortet: „Edith, das Geld kriegt ihr von mir!“ „Das habe ich dem Karl-Otto Schober natürlich nicht verraten,“ erzählt Edith weiter. „Ich habe also nur geantwortet: Ein Bissel Selbstvertrauen muss man schon haben. Und es war ja auch nur eine Frage."
„Doch man glaubt es nicht, drei Wochen später rennen die uns die Bude ein,“ formuliert Edith Heerwagen salopp das dann schon fast penetrante Drängen der Stadt, so schnell wie möglich den „Hirsch“ wieder aufzumachen. Edith Heerwagen wurde ins Rathaus bestellt, ging wieder hin und Bürgermeister Schober bettelte förmlich, dass es nun ganz schnell losgehen sollte. „Manfred war auf Montage und es ist ja nicht wie heute, dass man einfach anruft. Also sagte ich zu Karl-Otto: Herr Schober, bei uns könnte jemand sterben, ich wüsste nicht, wo mein Mann ist.“ Manfred Heerwagen war damals bei der Bau-Union auf Montage und kam nur alle 14 Tage nach Hause. Irgendwie hat sie ihn dann doch erreicht und am Telefon zu ihm gesagt: „Wir sollen aber sofort anfangen.“
Bis dahin war alles nur Gerede und auch irgendwie nur halb ernst gemeint. Da war Edith natürlich gespannt, wie Manfred reagieren würde. Er sagte nur: „Na gut, wenn Du willst…“ Den Satz hatte Edith Heerwagen nun für viele Jahre „an der Backe“. Sie war es ja, die „gewollt hat…“ Er setzte noch dran „vielleicht fünf Jahre können wir das schon mal machen.“ 5 Jahre – aus denen nun zumindest für Tochter Ute 50 geworden sind, denn seit 30. April 1971 ist sie dabei. Sie hat sofort in ihrem Betrieb gekündigt und vom ersten Tag an als Bedienung mitgemacht. 1973 heiratete Ute den Seefahrer Werner Klimke, der kurz darauf ebenfalls im „Hirsch“ anheuerte. Wer noch nicht wusste, warum die Hirsch-Bar „Sturmklause“ heißt und wo die Utensilien darin herkommen, weiß es spätestens jetzt.
Arbeiten im Hirsch war ein „straffes Programm“. Die Gaststätte öffnete 15 Uhr, im Sommer 16 Uhr, da standen allerdings die Gäste vor der Tür schon Schlange. Die jüngeren Zwillinge mussten aus dem Kindergarten abgeholt werden, „wenn Zeit war,“ erzählt Edith, „hab ich sie noch abgefüttert, sonst mussten die älteren Zwillinge sie mit nach Hause nehmen und sich um sie kümmern, denn bis um Elf und länger waren wir – Ute ja auch – in der Gaststätte zu Gange. Zum Glück wohnten wir bloß über die Straße, da konnte man auch schnell mal weg.“ Ute und Werner hatten übrigens die Wohnung über der Gaststätte bezogen.
Mehr zu erfahren über die 70er und 80er Jahre im Hirsch, über die zahlreichen Betriebsfeiern, die Saalveranstaltungen vom Tanzturnier über den Karneval bis hin zu den Konzerten der Konzert- und Gastspiel-Direktion, den Auftritten von namhaften, auch heute noch bekannten Künstlern wie Gunter Emmerlich, Heinz Rennhack und Achim Menzel, den Schwierigkeiten und den „Tricks“ bei der Beschaffung der zeitweisen „Mangelware“ Bier und vieles mehr ist in dem Heft „Radeburger Kneipenvielfalt“ der Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Radeburg nachzulesen (erhältlich im Heimatmuseum – auch auf dem Postweg – oder per E-Mail)
Nur eine Episode sei zitiert: die Puhdys traten im „Hirsch“ auf, just an dem Tag, als ihr erster Fernsehauftritt ausgestrahlt wurde. Sie erzählten den Wirtsleuten davon und Manfred Heerwagen scheute keine Mühe, seinen Fernseher aus der Wohnung zu holen und hinter der Bühne aufzubauen, damit sich die Puhdys selbst zum ersten Mal im Fernsehen sehen konnten.
Ein paar Details aus jener Zeit arbeitet aber Edith Heerwagen gern auch selbst noch heraus. Zum Beispiel die Sache mit der Sperrstunde. Um 23 Uhr musste alles zu sein, aber es wurde Karten gespielt oder geknobelt und die Spieler wollten noch nicht heim. Da wurde einfach zugeschlossen, das Licht ausgemacht und bei Kerzenlicht weitergespielt. „Wir hatten dicke Samt-Übergardinen. Die wurden mit der Rouladennadel zusammengesteckt, damit kein Licht durchfiel.“ Der Abschnittsbevollmächtigte (Ortspolizist) Gerhard Lange hatte die Einhaltung der Sperrstunde zu kontrollieren und hatte trotzdem den Lichtschein gesehen. Edith Heerwagen: „Lange Gerhard klopfte an die Scheibe und rief von draußen: Eeeedith, Feierabend! Ich so zu dem: komm erst mal rein und trink einen Kaffee! Da hab ich dem noch ein Kaffee gemacht, damit die wenigstens ihr Spiel zu Ende spielen konnten.“
Oder ihren „Heimschaff-Service“. Zum Beispiel war da ein gewisser Sepp Z. der „seiner Erna“ als Entschuldigung für seinen „angeheiterten“ Zustand eine Bratwurst mit Kartoffelsalat mit nach Hause nehmen wollte. „Das war um Elf. Viertel Zwölf war er wieder da. Ich sage: was willst du denn noch mal hier? Sagt er: Nu mir ist die Wurst entglitten. Kannste mir noch mal ne neue machen? Damit ihm die Wurst nicht noch mal entgleitet, hab ich ihn dann auch noch heimgeschafft, der wohnte nicht weit, bloß durchs Gässel an der Röder unten, dann hab ich geklingelt und bin abgehauen. So hab ich manchem Gast geholfen, die eigene Haustür zu finden. Das wissen manche Frauen heute noch nicht, wie die Männer heimgekommen sind. Aber bissel besorgt um unsere Gäste war ich schon. Den B. Walter hab ich sogar die Treppe hoch bis an die Wohnungstür geschafft, weil ich Angst hatte, dass der rückwärts runterfällt. Hab geklingelt und bin abgehauen.“
Ein besonderes Utensil war „der Leiterwagen“. Mit dem wurden „gehunfähige“ Gäste heimgeschafft. Zum Beispiel „Onkel Max“. Es war nach einer Betriebsfeier von der Bimmelbahn. „Da hatten wir den bis raus auf die Bahnhofstraße geschafft, bis hinter die Glasfaser. Wo wir den zu Hause ausgeladen haben, hatte der nur noch einen Schuh und wunde Fersen. Auch die Rentnerprinzessin war mal aus den Latschen gekippt und da leistete der Leiterwagen gute Dienste.“
Schließlich kam die Wende und mit ihr Alteigentümer Werner Thomschke. Edith Heerwagen: „Werner und Manfred kannten sich gut und so hat er uns den Hirsch zum Kauf angeboten. Wir mussten dazu einen Riesenkredit aufnehmen. An dem hatten wir 2000, als Ute die Hirschleitung übernahm, immer noch abgezahlt.“ Aber Edith erinnert sich auch noch an jene Zeit, als die „Wessis“ wie Heuschrecken über die beigetretenen Länder herfielen. Unter anderem auch die Firma „Jägermeister“ aus Wolfenbüttel, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Gaststätten und Hotels aufzukaufen, die ihr Markensymbol, den Hirsch, im Namen trugen. Deshalb konnte man jahrelang zur Verwunderung manches Gastes in diesem „Hirsch“ keinen Jägermeister bestellen.
Ute war es, die mit der Übernahme des Geschäfts endlich den Wolfenbüttlern verzeihen konnte und ihr Getränk wieder auf die Karte setzte. Aber auch die Übernahme ist schon wieder 20 Jahre her. Mit Herzblut hat Ute das Geschäft weitergeführt und in dieser Zeit dafür gesorgt, dass Traditionen aufrechterhalten oder wiederbelebt wurden. Aus Thomschke- Zeiten war es das DDR-Kultgetränk „Nikolaschka" zum Beispiel (siehe „Radeburger Kneipenvielfalt“) oder der regelmäßige „Russenabend“ der an die „sowjetischen Freunde“ erinnert, die früher vor der Hirschtür die Kreuzung absicherten, wenn russische Fahrzeugkolonnen mit Soldaten unterwegs waren. Oder der traditionelle „Weiberfasching“ auf dem Hirschsaal, der zum inoffiziellen Beginn der Tollen Tage mit Zeltparty und Umzugssonntag wurde. Da ist sicher noch einiges zu nennen, was nun leider wegen der Corona-Krise ein ums andere Mal ausfällt – so wie die „Kneipennacht“, die in diesem Jahr optimal mit dem „Hirsch-Jubiläum“ zusammengefallen wäre.
Mit einer „50“ über dem Eingang und vielen Gästen an diesem Abend – das bleibt nun leider ein Traum, aber die Feier wird sicher noch nachgeholt. Die Radeburger hoffen einfach auf Ute und dass sie bald wieder für ihre Gäste da ist, selbst wenn sie nun selbst bereits im Rentenalter ist, genau wie der getreue Werner an ihrer Seite oder auf Tochter Jaqueline und Enkelsohn Lukas, der sich derzeit in einer gastronomischen Ausbildung befindet. Im Stadtzentrum war schon vor Corona gastronomisch ziemlich Ebbe. Der Ratskeller ist schon lange nicht mehr was er sein sollte. Mit der Weinstube ist es ungewiss. Momentan ist hier nur das „Deutsche Haus“ noch im Rahmen des Möglichen aktiv und weiter draußen „Hundels Bahnhof".
Man will sich hier einfach keinen Markt ohne „Hirsch“ vorstellen. In diesem Sinne:
Liebe Ute! Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum, für Dich und Werner viel Gesundheit und bleibt uns bitte erhalten!
Deine Radeburger Gästeschar!